26. Januar 2023 Thema: Bauen, Entwickeln und Planen Von Steffen Burmeister
Das Thema kocht hoch: im Landkreis wird diskutiert, was denn von den Plänen der Bahn für einen Ertüchtigung der Infrastruktur zwischen Hannover und Hamburg zu halten ist.
Wobei diese Pläne ja noch arg im Nebel, also nicht klar zu sehen sind. Es gibt dazu reihenweise Informations- und Protestveranstaltungen. Eine Mischung aus beidem hat am 11. Januar in Jesteburg stattgefunden. Es hatten sich vergleichsweise wenig Menschen in die Oberschule aufgemacht, um dort Informationen mitzunehmen (sehen wir mal von den Funktions-Trägern und ‚üblichen Verdächtigen‘ der Gemeinde ab). Und, so mein Eindruck, es war eine sehr einseitige Veranstaltung, weil zwar die Befürworter der Alpha-E-Lösung umfänglich zu Wort kamen, Argumente für eine Neubaulösung aber keinen Platz fanden. Durchaus irritierend ist für mich die harsche Wortwahl der Anhänger der Alpha-E-Variante („Monster“, „Betrug“), die eine offene Betrachtung der Vorzüge und Nachteile beider Konzeptansätze sicher nicht leichter macht.
Um ein Stück mehr Ausgeglichenheit in die Debatte zu bringen habe ich den Vorsitzenden des Fahrgastbeirats im Landkreis Harburg, Stefan Kindermann, um ein Gespräch gebeten. Um es auch vorweg zu sagen: Stefan Kindermann ist ein Verfechter der Neubauvariante – die folgende Argumentation versteht sich also als bewusste Öffnung der Diskussion – damit sich jede/r selbst ein Bild zur Lage machen kann.
Herr Kindermann: was macht ein Fahrgastbeirat – was ist Ihre Aufgabe und wie unabhängig und kritisch ist Ihre Haltung grundsätzlich gegenüber der Deutschen Bahn?
Der Fahrgastbeirat des Landkreises Harburg besteht aus jeweils 2 Mitgliedern jeder Gemeinde oder Samtgemeinde und ist vor fast 25 Jahren im Rahmen einer Offensive zur Bürgerbeteiligung entstanden. Wir sind im Beirat ganz normale Fahrgäste – zum Teil nutzen wir einfach nur die öffentlichen Verkehrsmittel, zum Teil haben wir uns in den letzten Jahren aber auch fundierte Fachkenntnis erarbeitet. Wir tagen in Winsen im Kreishaus gemeinsam mit Vertretern der Landkreisverwaltung, der KVG, der VNO, und je nach Schwerpunktthemen, des Metronom, der Deutschen Bahn AG, des HVV und der Politik. Und wir geben Impulse: ganz konkret zur Fahrplangestaltung, oder zur Harmonisierung von Verkehrsinformationen über diverse Apps und vielen weiteren Themen. Wir sind eine institutionalisierte Interessenvertretung der Fahrgäste für den öffentlichen Verkehr. Und dabei sind wir völlig unabhängig. Wir verstehen uns als kritische aber hoch konstruktive und dialogorientierte Gesprächspartner. Wir sind Insider und letztendlich Lobbyisten für den öffentlichen Nahverkehr im ländlichen Raum im Landkreis.
Was ist aus Sicht des Fahrgastbeirats in den nächsten Jahrzehnten notwendig? Wie muss, wie soll die Bahn sich entwickeln? Und wie passen die Pläne für den Landkreis Harburg zum gesamtdeutschen Zielbild?
Die Zielsetzung, die über allem steht, ist: um die Klimaschutzziele und andere Umweltziele im Gesamtsystem ‚Verkehr‘ zu erreichen , muss die Bahn sowohl im Güter- wie auch im Personenverkehr Marktanteile gewinnen. Gesellschaftliche Aufgabe ist es den Verkehr auf unseren Straßen zu reduzieren. Und die Bahn soll bei einer Zunahme des Individual- und Güterverkehrs das Mehraufkommen übernehmen. Um das zu erreichen muss die Bahn die Gelegenheit bekommen, sich zu entwickeln. Und die Bahn muss verlässlich werden – nach dem Vorbild der Schweiz oder Japans. Reiseketten müssen solide funktionieren.
Und genauso muss der Güterverkehr optimiert werden. Jeder kennt den Stau auf der Autobahn; kaum einer kennt den Stau auf der Schiene, unter dem der Güterverkehr leidet. Wenn wir mehr Gütertransport auf die Schiene bekommen wollen, dann müssen wir handeln.
Und wie passen die Pläne vor Ort zum Gesamtbild?
Das große Bild wird bestimmt vom nun endlich mal geplanten ‚Deutschlandtakt‘. Das ist ein gutes Konzept: es geht um einen integralen TaktFahrplan und bedeutet, dass sozusagen überall gebündelt umgestiegen werden kann – sowohl im Nah-, wie auch im Fernverkehr: alle können innerhalb eines definierten komfortablen Zeitfensters aus allen Destinationen ankommen und in ihre Anschlusszüge und -busse umsteigen. Keiner wartet. Bundesweit. Solche Strukturen machen den ÖPNV attraktiv. Aber die Umsetzung (die käme 2040?) gibt die heutige Infrastruktur im Landkreis Harburg nicht her. Wir müssen also was tun.
Wenn wir die Verbesserungen im Landkreis nicht zulassen, dann werden wir es nicht erreichen, dass die Bahn ihren Marktanteil steigert. Und sie benachteiligt den Landkreis in seiner Anbindung an den Rest von Deutschland.
Der Landkreis hat also einen erheblichen Nutzen. Genauso, wie übrigens der Landkreis auch vom Hamburger Hafen profitiert – viele Unternehmen hier wären gar nicht da, wenn es den Hafen nicht gäbe. Also ist es auch nicht verkehrt, Vorteile für den Hamburger Hafen zuzulassen.
Als Argumente pro Alpha-E-Variante werden genannt: Trassenbündelung und damit weniger Beeinträchtigung der Natur, Ertüchtigung längst überfälliger Teilstrecken, zum Beispiel in Rotenburg/Wümme, … und damit ein deutlich früherer Start und ein deutlich früherer Nutzen als bei einem Neubau-Konzept -sind diese Argumente für Sie nachvollziehbar?
Nein. Ich halte diese Argumentation auch zumindest in Teilen für falsch. Es ist davon auszugehen, dass für Alpha-E mehr Zeit aufgewendet werden muss als bei einer Neubaustrecke, wenn wir davon ausgehen, dass das Planfeststellungsverfahren nicht länger dauert, als bei solchem Projekt üblich. Und das Terminal in Wilhelmshaven hat ja gezeigt, dass es bei wichtigen Projekten auch schneller gehen kann . Meine persönliche Meinung dazu: wir müssen grundsätzlich beim Bahnausbau schneller werden; aus meiner Sicht gerne auf Kosten des Autobahnbaus.
Was auch bedacht werden muss: Alpha-E bedeutet eine massive Beeinträchtigung auf den Bestandsgleisen während der jahrelangen Bauphase; das bedeutet unter anderem immer wieder monatelange Schienenersatzverkehre über Jahre hinweg. auf diversen Strecken.
Alpha-E ist ’nur‘ ein Update auf eine bestehende Infrastruktur. Aber mit den so erreichten Verbesserungen – inklusive eines 4-spurigen Ausbaus der Strecke zwischen Maschen und Lüneburg – können damit die Ziele nicht erreicht werden – keine Kapazitätsziele und keine Reisezeitenziele.
Andererseits – was sind die Argumente für ein Neubau-Konzept?
Ein starkes Pro-Argument: wir bekommen mehr Kapazität für’s gleiche Geld. Alpha-E ist vergleichsweise teuer. Das zeigt ja auch der schlechte Kosten-Nutzen-Faktor von Alpha-e, der deutlich unter 1 liegt.
Aus Jesteburger Sicht: bei Alpha-E bekommen wir noch mehr Güterzüge durch unsere Samtgemeinde (sonst macht es ja keinen Sinn, die Strecke Rotenburg-Verden zweigleisig auszubauen, wie das im Rahmen Alpha-E geplant ist), bei der Neubaustrecke weniger.
Auf der Neubaustrecke ist auch Kapazität für Regionalverkehr bahnen!. Auch das wird einen Nutzen für viele Fahrgäste in der Heide haben. Und: die notwendigen Fahrzeiten im Fernverkehr lassen sich nur mit einer Neubaustrecke realisieren.
Das sind alles Gründe, um offen über die Varianten nachzudenken.
Die Haltung zum Thema hängt zum Teil wohl auch von der Perspektive ab: wird bewertet aus dem subjektiven Blickwinkel – oder mit dem Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Auftrag. Da soll eigentlich ‚groß‘ gedacht und nicht über die persönliche Betroffenheit entschieden werden. Nicht umsonst haben sich ja neben dem Fahrgastbeirat auch die Interessenvertretungen pro-bahn und vcd für die Neubaustrecke stark gemacht.
Genau. Ich möchte auch daran appellieren, dass dieses wichtige Thema und seine Lösungsansätze nicht nur aus der Perspektive des eigenen Ortes und des eigenen Nutzens beurteilt werden. Es geht eben um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Einige Argumente derjenigen, die die Neubaustrecke ablehnen sind natürlich nicht von der Hand zu weisen: die Zerschneidung der Landschaft auf einigen wenigen Abschnitten zum Beispiel, die bei jeder Infrastrukturmaßnahme dieser Größenordnung stattfindet – sei es Autobahn oder Bahntrasse. Und da müssen wir eben abwägen: nehmen wir das in Kauf, um die großen Ziele in den nächsten Jahrzehnten erreichen zu können.
Was ist Ihr Appell an den Landkreis?
Auf den Punkt: nicht beleidigt sein und sich für eine wahrscheinlich überholte Variante einsetzen, sondern den Dialog mit der Bahn suchen und die neuen Parameter wirklich offen diskutieren.
(Titelbild: Stefan Kindermann (l), Vorsitzender des Fahrgastbeirats des LKR Harburg diskutiert mit Steffen Burmeister)